Einleitung: Bildung als gesellschaftliche Institution und die Frage der Bildungsmedien
„Bildung“ als gesellschaftliche Institution steht in einem übergreifenden Zusammenhang der umfassenderen Konzepte von Sozialisation und Erziehung. Im Anschluss an die soziologische Systemtheorie, wie sie vor allem Niklas Luhmann dezidiert gesellschaftstheoretisch entfaltet hat, lässt sich Sozialisation dabei als gesellschaftlich mitlaufender Prozess im Rahmen der Co-Evolution von psychischen und sozialen Systemen begreifen, und zwar im Sinne der Verwendung der Komplexität sozialer Systeme für den Aufbau der Eigenkomplexität psychischer Systeme.1 Demnach bildet Sozialisation gleichsam einen komplementären Mechanismus zu Inklusion, begriffen als die Verwendung der Eigenkomplexität psychischer Systeme in sozialen Systemen.2 Während Sozialisation also stets beiläufig im kommunikativen Vollzug von Gesellschaft geschieht, ist Erziehung demnach dadurch charakterisiert, dass sie als artikulierte Absicht zu erziehen explizit als solche kommuniziert wird.3 Darüber hinaus, und dies verweist bereits zumindest implizit auf die Frage des Gedächtnisses, hat sich Erziehung als ein zentraler (evolutionärer) Mechanismus der gesellschaftlichen Transmission herausgebildet.4 Und in diesem Rahmen hat sich schließlich insbesondere im deutschsprachigen Kontext das überaus schillernde Konzept und monumentale Deutungsmuster der Bildung als einer prägenden Semantik etabliert.5 Bildung wird dabei zumeist emphatisch bezogen auf die Figur des Subjekts als selbstreferentieller und universalisierter Träger von (potentieller und sinnhafter) Handlungsfähigkeit.6 Das Subjekt fungiert mithin als diskursiv konstituierte Figur (des Anspruches und der Anrufung) der Bildung, an der sich Sinn, Selbstreferenz, Rationalität und die artikulierte Selbstbeschreibung von Kommunikation als Handlung kristallisieren. Während Sozialisation gleichsam mit impliziten Erwartungen operiert, werden durch Bildung und Erziehung hingegen gerade explizite Erwartungen kommuniziert. Bildung konstituiert dazu Personen als Individuen sowie als Träger sozialen Gedächtnisses und beschreibt diese zudem als handelnde bzw. handlungsfähige Subjekte. Dies erfolgt im Rahmen der co-evolutionären strukturellen Kopplung zwischen sozialen und psychischen Systemen. Sozialisation stellt grundsätzlich die Eigenkomplexität sozialer Systeme für die emergente Selbstkonstitution der Individualität psychischer Systeme bereit.7 Bildung und Erziehung kommunizieren auf dieser strukturellen Basis explizite Erwartungen, Motivationen und Intentionen an das derart konstituierte Subjekt, die dieses dann in einer Umwendung auf sich selbstreferentiell prozessiert, also sich in freilich kontingenter Weise zu eigen macht.
Auch wenn Bildung, zumal in ihrer genuin deutschsprachigen Wortschöpfung, semantisch und programmatisch von Erziehung unterschieden wird, ist sie als gesellschaftliche Dimension und gesellschaftliche Institution zunächst einmal grundlegend im Erziehungssystem der modernen funktional differenzierten Gesellschaft institutionalisiert (worden).8 Bildung lässt sich demnach als eine moderne gesellschaftliche Institution charakterisieren, die vor allem drei elementare gesellschaftliche Funktionen ausübt und diese in einer freilich asymmetrischen Weise miteinander verbindet. Dabei handelt es sich um die Funktionen der Wissensvermittlung, der sozialen Selektion und der zumeist so genannten „kulturellen“ Integration, die effektiv durch die wiederholte performative Anrufung von Subjekten9 erfolgt, die sich dergestalt überhaupt erst als solche durch die institutionalisierte Zumutung und erwartete Aneignung von Bildung konstituieren. Die institutionalisierte schulische Bildung ist durch die Differenzierung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen vor allem anhand der Unterscheidung von Lehrenden und Lernenden und einer Professionalisierung der Leistungsrollen geprägt.10 Darüber hinaus eignet sich das semantische Register der Bildung im Sinne einer weitergehenden gesellschaftlichen und kulturellen Distinktion in Figuren der „Gebildeten“ gegenüber einem nicht oder zumindest weniger „gebildeten“ Publikum, wobei nicht nur die herausgehobene Bildung als kulturelles und symbolisches Kapital einer gesellschaftlich distinguierten Elite inszeniert, sondern damit eben auch die „defizitäre Bildung“ des Publikums gleichsam en passant in Erinnerung gerufen wird.11
Während die Wissensvermittlung zumeist und durchaus emphatisch als Aufgabe einer institutionalisierten (schulischen) Bildung akzentuiert wird, erscheint die soziale Selektion häufig als gleichsam nur mitlaufende und weitgehend verschwiegene Funktion von institutionalisierter (schulischer) Bildung. Die der Erziehung und Bildung zugeschriebenen Funktionen der Wissensvermittlung, der sozialen Selektion im Hinblick auf Modi gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion und der kulturellen Integration durch schulisch vermittelte Normen und Werte tragen maßgeblich zur Reproduktion gesellschaftlicher Ordnung und sozialer Ungleichheit bei. In diesem Zusammenhang stehen dann ebenfalls die bekannten Mechanismen gesellschaftlicher Distinktion qua (Bildungs-)Habitus, wie sie insbesondere das dementsprechend so genannte „Bildungsbürgertum“ seit dem 19. Jahrhundert ausgeprägt und buchstäblich kultiviert hat.12
In der Bildung und im institutionalisierten Erziehungssystem als Funktionssystem der modernen Gesellschaft lassen sich wie in sämtlichen gesellschaftlichen Funktionssystemen drei Ebenen differenzieren, und zwar Interaktion, Organisation und Gesellschaft.13 Auf der Ebene der Interaktion handelt es sich vor allem um den Unterricht und die darin bzw. davon ausgehend entfaltete Praxis des Lernens. Auf der Ebene der Organisation sind für den gesellschaftlichen Bereich der Bildung vor allem die Schule, die Universität sowie die von diesen Institutionen verliehenen selektiven Bildungszertifikate maßgeblich. Und auf der Ebene der Gesellschaft handelt es sich vor allem um das Erziehungssystem und seine gesellschaftlichen Funktionen der Transmission und Selektion, der Wissensvermittlung und Kanonisierung sowie der Ausprägung eines jeweils individuellen Lebenslaufs, verschiedener Bildungskarrieren und der Herausbildung eines entsprechenden gesellschaftlichen Habitus.14 Mithin distribuiert und legitimiert das Erziehungssystem dergestalt zukünftige individuelle Optionen der Inklusion in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Dies verweist bereits darauf, inwiefern die gesellschaftliche Institution schulischer Bildung insbesondere im Hinblick auf die polykontexturale Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion gesellschaftstheoretisch relevant und bedeutsam ist.
In diesem Zusammenhang stellt sich dann ebenfalls die Frage nach der Rolle von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien, die hier vor allem ausgehend von der soziologischen Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft diskutiert und vermessen wird. Der Fokus richtet sich dementsprechend auf die mit der funktionalen Differenzierung inhärent verbundenen Polykontexturalität15 von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien. Darüber hinaus wird perspektivisch die Frage aufgeworfen, inwiefern die Beobachtung, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft durch eine übergreifende Leitunterscheidung Inklusion/Exklusion zunehmend überformt wird, schließlich aus sozial- und gesellschaftstheoretischer Perspektive auch die gesellschaftliche Rahmung von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien affiziert.16
Im Folgenden widmet sich der vorliegende Beitrag einer sozial- und gesellschaftstheoretischen Vermessung und Verankerung von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien im Rahmen der gesellschaftlichen Institution der Bildung. Dazu exploriert er zunächst sozialtheoretisch schulische Bildungsmedien und die gesellschaftliche Institution schulischer Bildung anhand der elementaren Begriffe Wissen, Kommunikation und Gedächtnis. Daran anschließend nimmt der Beitrag eine gesellschaftliche Verortung von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien aus der Perspektive systemtheoretischer Gesellschaftstheorie vor. Schließlich fragt der Beitrag, inwiefern schulische Bildung und Bildungsmedien daher auch als institutionalisiertes „Gedächtnis der Gesellschaft“ begriffen werden können.
Wissen, Kommunikation und Gedächtnis
Während Geschichtsschulbücher in einem vielzitierten Diktum bereits einschlägig als „Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation“17 charakterisiert worden sind, haben Stein und daran anschließend Höhne ausgehend vom Begriff des „Schulbuchwissens“18 über einen solchen spezifischen Fokus auf Geschichtsschulbücher hinaus maßgeblich zu einer Theoretisierung des Schulbuchs als „Politicum“, „Informatorium“ und Pädagogicum“19 sowie aus wissenssoziologischer Perspektive als „Konstruktorium“20 beigetragen. Hieran kann die hier anvisierte sozial- und gesellschaftstheoretische Vermessung und Verankerung des Schulbuches anknüpfen, um allerdings zugleich programmatisch sozial- und gesellschaftstheoretisch über deren wissens- und medientheoretische Ansätze hinauszugehen, indem sie ausgehend von der soziologischen Systemtheorie und anhand der sozialtheoretisch elementaren Begriffe Wissen, Kommunikation und Gedächtnis sowie deren inhärentem Zusammenhang das Schulbuch differenzierungstheoretisch in seiner polykontexturalen gesellschaftlichen Verfasstheit exploriert.
Den sozialtheoretisch elementaren Ausgangspunkt bildet dabei die inhärente Rekursivität der Kommunikation (von Wissen), die damit auf die semantisch einschlägige Figur des Gedächtnisses verweist. In einer ersten Intuition und Annäherung erscheint Gedächtnis dann als retroaktive Form der diskursiven Sinnbildung im Sinne der „konstitutiven Nachträglichkeit der Semantik.“21 Diese Bestimmung bezieht die Figur des Gedächtnisses auf die gesellschaftstheoretisch übergreifende Unterscheidung zwischen Sozialstruktur einerseits und Semantik andererseits.22 Damit sind unterschiedliche Formen generalisierter Erwartungen bezeichnet, die auch und gerade im Zusammenhang von Bildung und Gedächtnis relevant werden. Während die Sozialstruktur durch die Generalisierung kognitiver und normativer Erwartungen sowie durch deren Unterscheidung charakterisiert ist, bleibt es auf der Seite der Semantik gleichsam programmatisch offen, inwiefern Erwartungen als kognitiv oder normativ behandelt werden.23 Gedächtnis und damit verbunden Wissen sind im Rahmen der „konstitutiven Nachträglichkeit der Semantik“24 und im Hinblick auf die ereignishafte effektive und operative diskursive Konstitution von Sinn25 eng miteinander verflochten. So unterscheidet Berek überzeugend „allgemeine Wissenselemente“ als Wissen einerseits und „selbstreflexive Wissenselemente“ mit Bezug auf die Vergangenheit, in der sie erworben wurden, als Gedächtnis andererseits: „Zum Gedächtnis gehören all jene Wissenselemente, mit denen auf der Basis gegenwärtiger Relevanzen, Einstellungen und Motive Ereignisse oder Erfahrungen der Vergangenheit repräsentiert werden.“26
Allerdings gilt es hier verschiedene Systemreferenzen zu spezifizieren und zu differenzieren. Grundlegend ist dabei zunächst die Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen sowie zwischen den damit jeweils verbundenen Formen des Sinns und seiner jeweils rekursiven Konstitution, also des Bewusstseins und der Kommunikation. Während das Gedächtnis in der Bildung vor allem in der elementaren Modalität des Lernens zunächst auf der Ebene des Bewusstseins individualisierter psychischer Systeme lokalisiert wird, gilt es im Hinblick auf die Ebene sozialer Systeme und der korrespondierenden Form der Kommunikation davon zu abstrahieren. Dabei sind im Hinblick auf das Gedächtnis in der Bildung verschiedene Ebenen sozialer Systeme zu unterscheiden, und zwar Interaktion, Organisation und Gesellschaft.
In der Bildung ist die Frage des Gedächtnisses entsprechend der polyvalenten Funktion und Modalitäten von Bildung auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Hinsichten relevant. So erfolgen zunächst einmal die Wissensvermittlung und die Praxis des Lernens offenkundig und ganz elementar durch rekursive Kommunikation und damit gedächtnisbasiert. Allerdings zeigt sich bereits auf dieser Ebene basaler Praktiken der Wissensvermittlung und des Lernens, inwiefern Gedächtnis nicht im Zuge von Übertragung oder gar Speicherung, sondern vielmehr im Modus wiederholender, aneignender und damit letztlich (re-)produktiver Praktiken zugleich ereignishaft und rekursiv „entsteht“. Mithin entspricht die Form des Gedächtnisses, wie bereits seit langem und oftmals betont, allerdings nicht unbedingt theoretisch konsequent entfaltet, dem Paradigma der Produktion statt dem der Repräsentation.27
Die allgemeine Praxis des Lernens ist charakteristischerweise ausgerichtet auf kognitive Erwartungen, d. h. auf die erwünschte Möglichkeit der Veränderung und Anpassung an und von Erwartungen, und zwar im Unterschied zu normativen Erwartungen, die auch kontrafaktisch bei Enttäuschung der Erwartung aufrechterhalten werden. Im Erziehungssystem wird Lernen daran anschließend respezifiziert als explizierte Absicht und die normativ(!) erwartete Bereitschaft und Fähigkeit zu Veränderungen bezogen auf kognitive Erwartungen, so dass es sich hier um ein durchaus paradoxes re-entry der Unterscheidung zwischen normativen und kognitiven Erwartungen handelt. Im Hinblick auf die dem Erziehungssystem und seinen Institutionen inhärente Selektionsfunktion der Bildung ist das Gedächtnis in der institutionalisierten Form von Noten, Examina, Bildungszertifikaten und daraus hervorgehenden Bildungskarrieren im individuellen Lebenslauf präsent. Damit zusammenhängend und zugleich allerdings auch darüber hinaus gehend ist ein veritables Bildungs-Gedächtnis in demjenigen verkörpert, das Bourdieu als kulturelles Kapital und korrespondierenden Habitus beschrieben und theoretisiert hat.28 So fungiert Bildung dezidiert als Medium gesellschaftlicher Distinktion und der damit korrespondierenden Reproduktion sozialer Ungleichheit sowie der gesellschaftlichen Ordnung (des Diskurses) mitsamt ihrer Legitimation überhaupt.29
Im Rahmen der Institution schulischer Bildung spielt das Gedächtnis mithin eine zentrale Rolle. So wird auch in der Gedächtnisforschung der inhärente Zusammenhang zwischen Lernen und Gedächtnis unterstrichen.30 Und in einem weiteren Sinne werden Erziehung und Bildung genuin als „gedächtnisbasiert“ begriffen.31 Hierfür wird wiederum das Konzept der Generation zentral. So formuliert Schäfer anhand dieses Konzepts gleichsam paradigmatisch den integralen Zusammenhang zwischen Gedächtnis einerseits und institutionalisierter Erziehung und Bildung andererseits: „Nicht nur muss daher der Ausgangspunkt von Erziehung ein gedächtnisbasierter sein, als sie zum einen ein Denken über die eigene Generation hinaus erfordert und zum anderen eines nachhaltigen Reizspeichers in den Köpfen der Heranwachsenden bedarf. Die absichtsvolle Gestaltung und Herausforderung des Lernens der nachwachsenden Generation ist immer auch Sinnbild der Selbstimagination einer Gemeinschaft. Es wird so erzogen, wie die Gemeinschaft sich selbst zu erinnern meint. Dies ist nur auf dem Wege der Institutionalisierung von Erziehung zu erreichen. Es überrascht daher nicht, dass Institutionalisierungen des kulturellen Gedächtnisses (Kanonisierung usw.) sich in erster Linie und bereits auf den frühesten Stufen der Entwicklung menschlicher Gesellschaften auf die Erziehung der nachwachsenden Generation richten.“32 Seit einiger Zeit werden gesellschaftliche Debatten um Bildung um die Frage einer angemessenen und zeitgemäßen Vermittlung relevanter Wissensbestände etwa anhand einer Ausrichtung an einem ausgesprochenen Kanon oder aber eher im Hinblick auf Kompetenzen, die von konkreten Wissensbeständen abstrahieren, geführt. Solche Debatten lassen sich schließlich auch dahingehend interpretieren, dass in ihnen explizit sowohl auf die Inhalte als auch auf die Formen des als der Vermittlung wert erachteten Wissens rekurriert wird, um eine „zeitgemäße“ Bildung nachfolgender Generationen als gesellschaftliches Gedächtnis zu instituieren.
Der Zusammenhang von Bildung und Gedächtnis ist schließlich insgesamt aus einer derartigen gesellschaftstheoretischen Perspektive offensichtlich. So lässt sich Bildung einerseits als eine besonders ausgeprägte Form eines emphatisch artikulierten und sowohl verinnerlichten und verinnerlichenden und andererseits im Sinne eines zugleich demonstrativ ausgestellten und symbolisch aufgeladenen Gedächtnisses begreifen. In Anlehnung an Bourdieu lässt sich dies auch als (Bildungs-)Habitus im Sinne einer gleichermaßen inkorporierten Struktur und deren symbolischer Repräsentation charakterisieren.33 In Deutschland hat sich das Konzept der Bildung seit dem 18. Jahrhundert als eine geradezu monumentale Semantik und im Sinne eines wirkmächtigen „Deutungsmusters“34 formiert und etabliert. Semantisch und diskursiv wirkmächtig kristallisiert im schillernden Begriff der Kultur und sozialstrukturell gekoppelt an die gesellschaftliche Formation des Bildungsbürgertums35 als distinktiven Träger hat sich in Deutschland eine konstitutive gesellschaftliche Selbstbeschreibung anhand des Begriffs der Bildung entfaltet. Dabei grenzt sich der Begriff einerseits konstitutiv von Ausbildung ab und differenziert sich in der Form verschiedenster Komposita wie humanistische Bildung, Menschenbildung/Allgemeinbildung, klassische Bildung/moderne Bildung, formale Bildung/reale Bildung, Gymnasialbildung/Realschulbildung aus.36 Zentral und übergreifend bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang die Unterscheidung und Abgrenzung eines gleichsam „ganzheitlichen“ Begriffs der Bildung gegenüber jeglicher Engführung auf einen wie auch immer gearteten funktionalen Nutzen.
Zur Polykontexturalität von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien
Im Rahmen der systemtheoretischen Gesellschaftstheorie lässt sich das Schulbuch einerseits als ein Medium des Erziehungssystems und andererseits als mediale Form der strukturellen Kopplung verschiedener zunächst autopoietischer gesellschaftlicher Funktionssysteme begreifen.37 Als Bildungsmedien im Rahmen des Erziehungssystems sind Schulbücher durch dessen Leitunterscheidung und Code in der Form vermittelbar/nicht vermittelbar geprägt.38 Ausgehend von dieser primären Codierung erfolgt die Selektion des Wissens und die Kommunikation seiner didaktischen Vermittlung, in Schulbüchern und anderen schulischen Bildungsmedien. Allerdings ist diese Leitunterscheidung offensichtlich derart abstrakt angelegt, dass es einer Konkretisierung der Selektionsprämissen und -kriterien bedarf. Dies geschieht auf der Ebene der Programme, die sich am systemeigenen Code vermittelbar/nicht vermittelbar orientieren und diesen gegenstandsbezogen konkretisieren. Solche Programme sind z. B. pädagogische Leitvorstellungen, didaktische Konzepte, Curricula, Lehrpläne. Auf dieser Ebene der Programme ist das Erziehungssystem flexibel und wandelbar, denn hier wird laufend neu verhandelt und kommuniziert, was wie und in welcher Form vermittelbar oder nicht vermittelbar ist und was dementsprechend letztlich vermittelt werden soll. Bezogen auf das vermittelte Wissen konstituieren der Code und seine Ausgestaltung in Programmen gleichsam das Gedächtnis des Erziehungssystems, und hier lässt sich dann auch das Bildungsmedium Schulbuch lokalisieren, das dergestalt programmiert, formatiert, didaktisch konzipiert, aber auch pädagogisch-didaktisch revidiert und kritisiert wird.
Allerdings bedeutet die autopoietische und selbstreferentielle Konstitution der gesellschaftlichen Funktionssysteme wie des Erziehungssystems keineswegs, dass diese völlig unabhängig von ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umwelt operieren. Denn die operative Geschlossenheit der gesellschaftlichen Funktionssysteme geht mit ihrer strukturellen Offenheit einher. Die operative Geschlossenheit besagt, dass die einzelnen Systeme wie auch das Erziehungssystem ihre Kommunikationen an einer jeweils spezifischen Leitunterscheidung, einem systemeigenen Code, ausrichten, der im Fall des Erziehungssystems eben die Unterscheidung vermittelbar/nicht vermittelbar ist. Komplementär dazu heißt strukturelle Offenheit vor allem, dass potentiell sämtliche gesellschaftlich relevanten Phänomene im Erziehungssystem thematisiert werden können, allerdings stets ausgehend von der Leitunterscheidung vermittelbar/nicht vermittelbar. Darüber hinaus kombiniert das Erziehungssystem wie jedes andere gesellschaftliche Funktionssystem seine funktionale Spezifikation mit einer gesellschaftlichen Universalzuständigkeit. Insgesamt führt diese Kombination von operativer Geschlossenheit und struktureller Offenheit der Funktionssysteme dazu, dass inhärente strukturelle Kopplungen zwischen verschiedenen Funktionssystemen entstehen. Dies heißt dann allerdings nicht, dass Systemgrenzen durchlässig würden oder sich gar auflösen, denn es bleibt auch dann dabei, dass die einzelnen Systeme bestimmte Sachverhalte jeweils aus der spezifischen Perspektive ihrer jeweiligen Leitunterscheidung beobachten und kommunizieren, so dass diese Sachverhalte eben nicht identisch sind, sondern von System zu System differieren.
Während die Beobachtung des Bildungsmediums Schulbuch im Erziehungssystem vor allem ausgehend von der Unterscheidung vermittelbar/nicht vermittelbar erfolgt, die wiederum in pädagogisch-didaktischen Programmen spezifiziert wird, wird es aus den verschiedenen Perspektiven anderer Funktionssysteme wie vor allem Politik, Massenmedien, Wirtschaft, Wissenschaft, aber auch Recht, Kunst und Religion jeweils ganz anders beobachtet, d. h. vor allem anhand anderer jeweils spezifischer Codes. So beobachtet die Politik (inklusive der politischen Akteure), deren Selbstbeschreibung und zentrale Organisation der jeweilige (National-)Staat bildet, Schulbücher und schulische Bildungsmedien primär daraufhin, inwiefern sie sich als Vehikel der eigenen parteipolitischen Profilierung im Wettbewerb um politische Macht und Ämter im Staat eignen, denn Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit und sukzessive Regierung/Opposition bilden die Leitunterscheidung(en) des politischen Systems.39 Daher ist das Schulbuch politisch hier vor allem im Konfliktfall relevant. Die Schulbücher der Fächer wie Geschichte, Geographie, Sozialkunde und Religion sind dabei insofern politisch besonders interessant, da sie auch als Medien der politisch legitimierten Selbstbeschreibung (des Staates) beobachtet werden (können). Diese auf das Medium Schulbuch bezogene strukturelle Kopplung zwischen Erziehungssystem und Politik ist daher in impliziten oder expliziten Zulassungs- oder Kontrollverfahren von Schulbüchern institutionalisiert. Im Unterschied dazu sind die Schulbücher in der Wirtschaft, deren zentraler Code die Unterscheidung zahlungsfähig/nicht zahlungsfähig ist, vor allem als Produkte interessant, die auf dem Markt verkauft oder eben nicht verkauft werden und damit zu Gewinnen oder Verlusten bzw. zur Reproduktion von Zahlungsfähigkeit oder Zahlungsunfähigkeit führen. Die strukturelle Kopplung des Erziehungssystems mit dem Wissenschaftssystem ist gleich in mehrfacher Hinsicht für das Schulbuch (und die Schulbuchforschung) relevant. Erstens ist das jeweils fächerspezifische Wissen, das im Medium Schulbuch kommuniziert wird, strukturell – zumeist vermittelt über die jeweiligen Fachdidaktiken – an das in den einzelnen Wissenschaften im Rahmen des Codes wahr/unwahr kommunizierte Wissen gekoppelt. Zweitens bildet das Schulbuch seinerseits einen Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen unterschiedlicher Disziplinen sowie insbesondere der historisch aus der strukturellen Kopplung von Politik, Erziehungssystem und Wissenschaft hervorgegangenen Schulbuchforschung.
Einen Sonderfall bildet offenbar die strukturelle Kopplung zwischen Erziehungssystem und Massenmedien. Denn das Medium Schulbuch kann einerseits im Rahmen der strukturellen Kopplung beider Systeme analysiert werden und stellt andererseits zugleich selbst ein Massenmedium dar. Besonders interessant sind dabei die spezifischen Selektions- und Filtermechanismen hinsichtlich der in den verschiedenen Medien jeweils dargestellten und verbreiteten Informationen. Während sich die Massenmedien grundsätzlich am Code Information/Nichtinformation orientieren und in ihren Programmen den häufig modisch-attraktiven oder auch skandalträchtigen Neuigkeitswert von Informationen fokussieren,40 scheint das Bildungsmedium Schulbuch, das zugleich auch ein Massenmedium darstellt, diesen Code u. a. in spezifischer Weise mit dem Code des Erziehungssystems, also vermittelbar/nicht vermittelbar zu kombinieren, was bereits auf seine eigentümliche Gedächtnisfunktion anhand seiner seriellen, rekursiven und redundanten Kommunikation kanonisierten Wissens verweist. Darüber hinaus können Schulbücher wiederum selbst in den Massenmedien thematisiert werden, und dies erfolgt gemäß der bereits skizzierten massenmedialen Codierung zumeist in skandalisierender Form. All dies erzeugt insgesamt, zumal unter den beschriebenen Bedingungen vielfältiger struktureller Kopplungen mit anderen Funktionssystemen, einen ganz eigentümlichen Kontingenzdruck, der im Medium Schulbuch insistiert und es zu einem polyvalenten Medium der selektiven diskursiven Sinnkonstitution macht.
Dementsprechend lassen sich das Schulbuch sowie die Prozesse seiner Produktion, Zirkulation, Verbreitung, Verwendung und Rezeption eben nicht allein aus der Logik des Erziehungssystems heraus analysieren, sondern müssen immer diesen vielfältigen strukturellen Kopplungen zwischen den verschiedenen Funktionssystemen Rechnung tragen.
Darüber hinaus können solche strukturellen Kopplungen wiederum selbst einen grundlegenden Strukturwert in den involvierten Systemen erlangen. Dies lässt sich insbesondere an den strukturellen Kopplungen sowie der Co-Evolution des Erziehungssystems mit der Politik und der Wissenschaft zeigen. Die strukturelle Kopplung des Erziehungssystems mit der Politik ist insofern grundlegend, als sie im Zuge der evolutionären funktionalen Ausdifferenzierung beider Systeme dazu geführt hat, dass die charakteristische Segmentierung des politischen Systems in Nationalstaaten weitgehend auch das Erziehungssystem prägt. An dieser Stelle lässt sich dann auch die Rolle der Schulbücher für die sogenannten sinnbildenden Fächer (Geschichte, Geographie, Sozialkunde, Religion) situieren, z. B. als Medien der wechselseitigen Selbst- und Fremdbeschreibung auf der Ebene verschiedener Nationalstaaten, sowie der internationalen Schulbuchforschung und -revision, die darauf (historisch) reagiert und versucht (hat) Einfluss zu nehmen. Weiterhin grundlegend ist die strukturelle Kopplung des Erziehungssystems mit der Wissenschaft, die sich u. a. darin niederschlägt, dass die ebenfalls evolutionär entstandene Segmentierung der Wissenschaft in verschiedene Disziplinen zwar nicht vollständig in der Segmentierung des Erziehungssystems in Unterrichtsfächer abgebildet wird, jedoch beide Prozesse zweifellos in einer gewissen Co-Evolution erfolgt sind. Dies betrifft das Medium Schulbuch unmittelbar, insofern es jeweils bestimmten Fächern zugeordnet und damit, vermittelt über die jeweiligen Fachdidaktiken, auch in einem gewissen Maße an die korrespondierenden wissenschaftlichen Disziplinen gekoppelt ist.
Ein weiterer Sonderfall ist in diesem Zusammenhang der Status der Pädagogik bzw. neuerdings der Erziehungswissenschaft innerhalb der strukturellen Kopplung des Erziehungssystems und der Wissenschaft. So bildet nach Luhmann die Pädagogik nicht zuletzt aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte zunächst einmal die Reflexionstheorie des Erziehungssystems und ist als primär normative und anwendungsorientierte Disziplin lediglich institutionell im Wissenschaftssystem verankert. Zugespitzt formuliert ist demnach für die Pädagogik die Leitunterscheidung des Erziehungssystems, also der Code vermittelbar/nicht vermittelbar maßgeblich, während der wissenschaftliche Code wahr/unwahr in der Pädagogik nur eine untergeordnete Rolle spielt. Hierin ist die normative Ausrichtung der Pädagogik impliziert, und die neuere Selbstbeschreibung als Erziehungswissenschaft, verbunden mit theoretisch-methodischer Innovation, artikuliert das verstärkte Bemühen um ihre Anerkennung als genuine Wissenschaft jenseits des normativen Anspruchs der Erziehung. Analoges gilt in einem gesteigerten Maße dann auch für die Schulbuchforschung, der es überdies an einer institutionellen Verankerung als eigenständige Disziplin in der Wissenschaft mangelt.
Die Schulbuchforschung bildet mithin eine Reflexionstheorie des Mediums Schulbuch und ist daher zutiefst an ihrem Gegenstand verhaftet. Die Schulbuchforschung reflektiert und theoretisiert also das Schulbuch und die Schulbuchpraxis, jedoch mangelt es ihr weitgehend an einer genuin wissenschaftlichen Theoriebildung. Um dieses Defizit zu beheben, müsste sich eine theoretisch ausgerichtete Schulbuchforschung zunächst einmal dergestalt vom konkreten Gegenstand Schulbuch theoretisch-methodologisch distanzieren, dass sie z. B. nicht von vornherein von einer Definition des Schulbuches ausgeht, sondern allenfalls als stets vorläufiges, weil permanent revidierbares Resultat ihrer theoretischen Reflexion jeweils eine solche Definition formuliert. Dies impliziert u. a., dass Schulbuchforschung zunächst einmal von denjenigen Kommunikationen ausgeht, in denen Schulbücher als solche bezeichnet, von anderen Medien und Artefakten (z. B. Bücher allgemein) unterschieden, beobachtet und damit letztlich überhaupt erst als eigenständige Medien und Artefakte konstituiert werden. Dabei würde die Schulbuchforschung unweigerlich nicht zuletzt auf sich selbst als Gegenstand treffen, insofern sie sowohl historisch vor allem unter dem Titel der „Schulbuchrevision“ als auch gegenwärtig maßgeblich an dieser diskursiven Konstitution des Schulbuches – als eigenständiges Artefakt und Medium der Sinnbildung – beteiligt (gewesen) ist. Damit würde Schulbuchforschung schließlich auch unweigerlich zu einer autologischen wissenschaftlichen Forschungsrichtung, d. h. einer wissenschaftlichen Disziplin, die im Rahmen ihrer Forschung auch sich selbst und ihre diskursiven Effekte wissenschaftlich untersucht und reflektiert. Dies gilt bereits analog z. B. für die Soziologie, insofern sie umfassende Gesellschaftstheorie oder Wissenschaftssoziologie betreibt und dabei auch auf sich selbst als institutionalisierte Form der wissenschaftlichen Beschreibung moderner Gesellschaft41 stößt, und die Geschichtswissenschaft, die sich ebenfalls in ihrer Teildisziplin der Historiographiegeschichte selbst historiographisch erforscht. Im Vergleich mit diesen beiden wissenschaftlichen Disziplinen, in denen die autologische Dimension allerdings nicht immer unmittelbar und in allen ihren vielfältigen Forschungsbereichen zutage tritt, ist die Schulbuchforschung allerdings derart eng mit ihrem konkreten Gegenstand verhaftet, dass sie tatsächlich im Zuge der theoretisch elaborierten Reflexion der Konstitutionsbedingungen des Schulbuchs unweigerlich auf sich selbst als Gegenstand, d. h. als einen zentralen Faktor und Vektor eben dieser diskursiven Konstitution des Schulbuches treffen wird. Dies impliziert zugleich also eine Historisierung der Schulbuchforschung im Rahmen einer Genealogie der diskursiven Konstitution des Schulbuchs. Daraus folgt forschungspragmatisch, dass eine theoretisch elaborierte Schulbuchforschung die historischen und zeitgenössischen Texte der Schulbuchforschung selbst nicht nur als gegenstandsbezogene Forschungsliteratur, sondern zugleich auch als Quelle hinsichtlich der diskursiven Konstitution des Schulbuches als Gegenstand rezipieren muss.
Schulische Bildung und Bildungsmedien als Gedächtnis der Gesellschaft?
„Was wir über unsere Gesellschaft … wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ (Niklas Luhmann)42
Aus einer sozialtheoretischen Perspektive geraten die gesellschaftlichen Funktionen von Bildung in den Blick. So übernimmt Bildung die grundlegenden gesellschaftlichen Funktionen der Wissensvermittlung und Kanonisierung, Selektion, Reproduktion und Legitimation gesellschaftlicher Ordnung sowie der Stratifikation. Und diese Funktionen umfassen mithin eine Dimension sozialen Gedächtnisses in der Form Erinnern/Vergessen.43 Gesellschaft bezeichnet aus der hier leitenden systemtheoretischen Perspektive im Anschluss an Luhmann das umfassende soziale System, das ausschließlich aus Kommunikation besteht bzw. präziser formuliert: sich rekursiv kommunikativ ereignet. Das heißt dann im Umkehrschluss, dass es per definitionem keine Kommunikation außerhalb der Gesellschaft bzw. in der gesellschaftlichen Umwelt gibt.44 Im Folgenden steht die Gesellschaft als umfassendes soziales System aus der Perspektive des Erziehungssystems im Vordergrund, um zu erörtern, inwiefern die Institution schulischer Bildung und damit Schulbücher und schulische Bildungsmedien als Gedächtnis der Gesellschaft begriffen werden können. Insofern Gesellschaft aus Kommunikation besteht und entsteht und Kommunikation sich wiederum inhärent rekursiv, also durch die Rekursion von Kommunikation auf Kommunikation vollzieht, bildet das Gedächtnis in der Form von Erinnern/Vergessen eine inhärent stets mitlaufende Operation im Prozessieren von (gesellschaftlicher) Kommunikation. Bildung lässt sich dabei als exponierte Form von inhärent mitlaufender Sozialisation und Transmission45 im Rahmen der gesellschaftlichen Co-Evolution von Kommunikation und Bewusstsein, also von sozialen und psychischen Systemen, begreifen.46 Gedächtnis als ereignishafte Rekursion von Kommunikationen und dergestalt operativ inhärente Dimension von sozialen Systemen im übergreifenden Medium des Sinns und in der Form der Sinnbildung verweist dann wiederum auf Bewusstsein als Voraussetzung sozialer Systeme.47
Während Elena Esposito im unmittelbaren Anschluss an das oben zitierte Diktum Luhmanns das System der modernen Massenmedien gleichsam als Gedächtnis par excellence der modernen Gesellschaft identifiziert und dies überzeugend argumentativ entfaltet hat,48 lassen sich durchaus komplementär oder vielleicht eher supplementär dazu auch die Bildung als gesellschaftliche Institution allgemein und – wie im Folgenden argumentiert wird – Bildungsmedien als eine spezifische Form von Massenmedien im Besonderen ebenfalls im Sinne eines „Gedächtnis der Gesellschaft“ begreifen.49 Für die Massenmedien als Gedächtnis in der modernen Gesellschaft ist vor allem die Differenzierung zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung als Formen der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung wie vor allem im Forum der „öffentlichen Meinung“ konstitutiv. Elena Esposito unterscheidet in ihrer systemtheoretisch inspirierten Differenzierung grundlegender historischer Formen des Gedächtnisses: divinatorisches und rhetorisches Gedächtnis, Kultur als Gedächtnis und massenmediales Gedächtnis im Zusammenhang mit verschiedenen Formen gesellschaftlicher Differenzierung und dem Primat funktionaler Differenzierung. Insgesamt akzentuiert Esposito im Hinblick auf das Gedächtnis als Form „sozialen Vergessens“ einen strukturellen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Differenzierungsformen einerseits und Verbreitungsmedien sowie Kommunikationstechnologien in der Gestalt der modernen Massenmedien andererseits.50 Demnach zeichnet sich das Gedächtnis der modernen funktional differenzierten Gesellschaft in der Form „Kultur als Gedächtnis“ und in der Gestalt der Massenmedien durch „soziales Vergessen“ aus, d. h. sie dienen „nicht mehr direkt der Aufbewahrung von Inhalten (der Erinnerung), sondern lediglich der Festlegung von Verweiszeichen und Verbindungen zwischen Inhalten […], die nun vergessen werden sollen“ und stellen insofern „eine Form ‚virtuellen Gedächtnisses‘„ und „einer der Kommunikation zur Verfügung stehenden Potentialität“ dar, „die nur aktiviert wird, wenn man davon Gebrauch macht.“51 Im Folgenden wird erörtert, wie sich die Figur des Gedächtnisses in der gesellschaftlichen Institution der Bildung ausprägt und welche Rolle dabei Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien zukommt.
Aus dieser Perspektive des Gedächtnisses als „soziales Vergessen“ im Rahmen der Unterscheidung zwischen Erinnern und Vergessen erscheint die semantisch gepflegte Figur der Bildung als prominenter Ausdruck eines strategischen sozialen Vergessens in der Form einer wiederholt aktualisierten Selbstbeschreibung und eines situativ kultivierten Habitus. Und die gesellschaftliche Institution der schulischen Bildung stellt hierfür anhand der Vermittlung von Wissen, Normen und Werten sowie der sozialen Selektion im Hinblick auf gesellschaftliche Inklusionsoptionen eine zentrale Hintergrundbedingung dar. Bildung und Gedächtnis sind darüber hinaus vielfältig miteinander verflochten und tragen einerseits gemeinsam und andererseits doch auch unterschieden und auf ihre je spezifische Weise zu denjenigen sowohl psychischen als auch sozialen Prozessen bei, die sich als diskursive gesellschaftliche Sinnbildung begreifen lassen. Dies erfolgt im übergreifenden Medium des Sinns, das Bewusstsein und Kommunikation umfasst und in dem eine strukturelle Kopplung von psychischen und sozialen Systemen vollzogen wird. Dies geschieht, aus einer phänomenologisch inspirierten Perspektive betrachtet, übergreifend in Form der Unterscheidung zwischen Aktualität und Potentialität, indem etwas jeweils aktual mit dem Verweis auf weitere Möglichkeiten bezeichnet wird. Während das Gedächtnis zur diskursiven Sinnbildung beiträgt, indem zwischen Erinnern und Vergessen52 unterscheidet und selegiert, fungiert Bildung komplementär dazu in diesem Zusammenhang als semantisch spezifisch elaborierter Modus des Erziehungssystems. Bildung lässt sich dadurch charakterisieren, dass sie als Instanz fungiert, die zwischen dem „intentional“ aufgeladenen, also strategischen Vermitteln von Wissen und eben dessen nicht vermitteln diskriminiert, und zwar im Rahmen des Erziehungssystems anhand der Unterscheidung vermittelbar/nicht vermittelbar, erfolgreich und nicht erfolgreich vermittelt sowie darüber hinaus durch eine überaus emphatisch normative Werte-Semantik, die zwischen „der Vermittlung wert“ oder eben nicht unterscheidet. Sinntheoretisch, d. h. bezogen auf die Funktion diskursiver Sinnbildung ausgehend von der phänomenologisch inspirierten Unterscheidung zwischen Aktualität und Potentialität sowie der Differenzierung der Dimensionen des gesellschaftlich verfügbaren Sinns, lässt sich die Form der Bildung als Gedächtnis daran anschließend noch näher spezifizieren.
In der Sachdimension des Sinns dient Bildung der Selektion und Kanonisierung von Wissensbeständen, inklusive deren Legitimation oder auch Delegitimation. In der korrespondierenden Zeitdimension fungieren Erziehung und Bildung als semantisch profilierte „Institution“ und selbstreferentieller Prozess der expliziten und exponierten Transmission und Reproduktion des Sozialen53, während sie in der Sozialdimension eine diskursive Matrix sozialer Selektion und eine gesellschaftliche Instanz der Anrufung und Erinnerung/Verinnerlichung von (zukünftigen) Subjekten54 bilden. In der Sozialdimension des Sinns und bezogen auf die Unterscheidung zwischen Handeln und Erleben (in den Positionen von Alter und Ego), die für diese maßgeblich ist, scheint das Gedächtnis in der Form Erinnern/Vergessen zunächst einmal das Erleben zu akzentuieren, während Bildung komplementär dazu auf den Aspekt des Handelns verweist. Im weiteren Verlauf gilt es darüber hinaus noch zu klären, welche Implikationen dies in der Sozialdimension jeweils für Konsens und Dissens und für Inklusion und Exklusion zeitigt. In der Zeitdimension des Sinns tragen Gedächtnis und Bildung schließlich konstitutiv und maßgeblich zu den gesellschaftlichen Prozessen der Transmission und (Selbst-)Transformation wie (Selbst-)Bildung und (Selbst-)Sozialisation bei.
Allerdings handelt es sich dabei um Prozesse, die sich in einem gesellschaftlichen Rahmen vollziehen. So wird für die Prozesse diskursiver Sinnbildung durch Gedächtnis und Bildung ebenfalls die Unterscheidung zwischen Sozialstruktur und Semantik besonders relevant. In einem grundlegenden und abstrakten Sinn materialisieren sich aus systemtheoretischer Perspektive in der gesellschaftlichen Sozialstruktur generalisierte Erwartungen, die sich wiederum an den jeweiligen Formen gesellschaftlicher Differenzierung ausrichten. Im Rahmen der modernen primär funktional differenzierten Gesellschaft sind demnach die verschiedenen Funktionssysteme mitsamt ihren jeweils spezifischen Funktionen zunächst einmal im Hinblick auf die Sozialstruktur maßgeblich. Komplementär zur gesellschaftlichen Sozialstruktur und funktionalen Differenzierung artikulieren Semantiken jeweils relevante und performative gesellschaftliche Selbstbeschreibungen. Bildung und Gedächtnis bezeichnen dabei Modalitäten der (Selbst-)Anrufung (von Subjekten) und selektiven Transmission bzw. Tradierung (des Sozialen), die wiederum konstitutiv für solche gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen sind. Dabei kann Bildung als eine moderne Form eines institutionalisierten und kanonisierten Gedächtnisses gelten.
Aus systemtheoretischer Perspektive werden grundlegend verschiedene Formen gesellschaftlicher Differenzierung unterschieden, und zwar segmentäre Differenzierung, Zentrum/Peripherie, Stratifikation und schließlich funktionale Differenzierung, wobei historisch bzw. evolutionstheoretisch jeweils eine Differenzierungsform einen gesellschaftlichen Primat erlangt. Demnach ist die moderne Gesellschaft durch den Primat funktionaler Differenzierung charakterisiert,55 allerdings ohne dass die anderen Formen gesellschaftlicher Differenzierung damit völlig bedeutungslos geworden sind, denn sie spielen wie z. B. Stratifikation als gleichsam untergeordnete Form der gesellschaftlichen Differenzierung im Rahmen der Funktionssysteme weiterhin eine durchaus bedeutende Rolle. Zudem wird gegenwärtig vielfach diskutiert, inwiefern die mittlerweile überaus prominente Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion den Status einer neuen gesellschaftlichen Leitdifferenzierung erlangt hat, welche in den verschiedenen Funktionssystemen gleichsam parallel − und durch wechselseitige Beobachtung lose aneinander gekoppelt − realisiert wird und dabei die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zunehmend wirksam überformt.56
Außer den unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Differenzierung mit dem Primat funktionaler Differenzierung in der modernen Gesellschaft lassen sich im Rahmen der funktional differenzierten Gesellschaft drei Ebenen sozialer Systeme unterscheiden, die nicht zuletzt auch für Bildung und Gedächtnis bedeutsam sind, und zwar Interaktion, Organisation und Gesellschaft, wobei die übergreifende Ebene der Gesellschaft ausschließlich polykontextural durch die verschiedenen Funktionssysteme realisiert wird. Insofern Gesellschaft hier durchaus radikal systemtheoretisch als ein immanent ereignisbasierter und rekursiver Kommunikationszusammenhang − und nicht etwa als eine irgendwie geartete Entität oder im Sinne eines statischen Containers von Institutionen − begriffen wird, handelt es sich bei Bildung und Gedächtnis keineswegs um Mechanismen der Systemerhaltung oder der Speicherung von Wissen bzw. Informationen, sondern um gleichsam monumental institutionalisierte Semantiken und prozessuale differente Modi der Transmission von Sinn als immanenten und different wiederholten Verweisungszusammenhang von Aktualitäten und Potentialitäten. Mithin sind daher auch und gerade Bildung und Gedächtnis ausschließlich der jeweils ereignishaft aktualisierte und immanent rekursive operative und performative Vollzug der Prozeduren des Vermittelns oder nicht Vermittelns bzw. des Erinnerns oder Vergessens.57
Im Hinblick auf den Zusammenhang von Bildung und Gedächtnis ist schließlich die Frage der Systemreferenz zentral, und zwar vor allem anhand der Unterscheidungen von psychischen und sozialen Systemen, also von Bewusstsein und Kommunikation. Aus einer begriffsgeschichtlichen und weitergehenden genealogischen Perspektive sind darauf bezogen semantische Analogiebildungen und folgenreiche „Übertragungen“ zwischen diesen unterschiedlichen Systemreferenzen auch und gerade in der modernen Diskursgeschichte von Bildung und Gedächtnis wirkmächtig geworden. In der Gesellschaftsgeschichte Deutschlands hat sich Bildung seit dem 18. Jahrhundert, semantisch eng gekoppelt mit einem emphatischen Begriff von Kultur, nicht nur als eine Leitsemantik herausgebildet, sondern in der gesellschaftlichen Formation des „Bildungsbürgertums“ diskursiv besonders wirkmächtig materialisiert. Ausgehend von der darin implizierten kulturellen Definitionsmacht des Bildungsbürgertums lässt sich dies auch als spezifische Institutionalisierung gesellschaftlichen Gedächtnisses in der Form des Deutungsmusters der Bildung58 beschreiben. Hierin und in der ausgeprägten gesellschaftlichen Distinktion des Bildungsbürgertums macht sich die Stratifikation als eine auch in der funktional differenzierten Gesellschaft weiterhin relevante Form gesellschaftlicher Differenzierung geltend. Dieses hierarchische Prinzip der Differenzierung zeigt sich bezogen auf Bildung und Gedächtnis sowie deren inhärente Funktion der Selektion nicht nur in der Gestalt der Verleihung und Anerkennung unterschiedlicher Bildungsabschlüsse, sondern erlangt auch und gerade hinsichtlich der Definition eines ausgesprochenen Bildungskanons eine konstitutive Bedeutung.
Gewissermaßen komplementär zu den verschiedenen und differenten Konzepten von Bildung stellt sich die Frage, inwiefern es sich um ein Gedächtnis oder doch eher um eine sozialstrukturelle und semantische Pluralität von Gedächtnissen (in) der Gesellschaft handelt. So artikulieren Schemata wie allgemeine Bildung, höhere Bildung und (berufliche) (Aus-)Bildung jeweils individuell oder kollektiv ausgeprägte und gestaltete Variationen des Gedächtnisses als Karrieren. Die individuelle Person und ihr Lebenslauf fungieren dabei als Medien der Bildung und des korrespondierenden (Bildungs-)Gedächtnisses.59 Als soziales Gedächtnis in actu wird Bildung auf verschiedenen Ebenen für gesellschaftlich differente Selbstbeschreibungen angeeignet und performativ inkorporiert, und zwar im Rekurs auf individuelle, generationelle, gruppenspezifisch kollektive und allgemeine Bildung. Im Anschluss an Bourdieu lassen sich Bildung und Gedächtnis als eine konstitutive Dimension des Habitus als einer inkorporierten Struktur begreifen.60 Im Sinne der Stratifikation fungiert Bildung mit ihrer inhärenten Funktion der Selektion sowie der Legitimation von Inklusion und Exklusion sowie der gesellschaftlichen Ordnung überhaupt als prozessuales Gedächtnis des Sozialen.
Im Rahmen des Erziehungssystems als gesellschaftlichem Funktionssystem spielt die Form des Gedächtnisses, also die Unterscheidung Erinnern/Vergessen61 in Verbindung mit der Codierung vermittelbar/nicht vermittelbar bezogen auf die beiden Funktionen der Vermittlung von Wissen und der (sozialen) Selektion im Hinblick auf gesellschaftliche Inklusionschancen62 eine grundlegende und spezifische Rolle. Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Bildung und Gedächtnis gerät schließlich die mediale und materiale Dimension von Bildung in der Gestalt von Bildungsmedien, Kommunikationstechnologien und Massenmedien63 in den Fokus. So erlangen Bildung und Gedächtnis im Rahmen der Funktionssysteme von Erziehung und Massenmedien eine gesellschaftliche Bedeutung. Und der Zusammenhang zwischen beiden ergibt sich erstens aus der strukturellen Kopplung zwischen Erziehungssystem und Massenmedien und daran anschließend insbesondere daraus, dass Bildungsmedien wie z. B. Schulbücher eben auch Massenmedien darstellen. Während allerdings im Unterschied zu anderen Massenmedien bereits im allgemeinsprachlichen Ausdruck „Schulbuchwissen“ die strukturelle Trägheit und Redundanz des Bildungsmediums Schulbuch akzentuiert wird, lassen sich Schulbücher und schulische Bildungsmedien gleichsam als serielles Gedächtnis und Medien eines gesellschaftlich institutionalisierten sozialen Vergessens charakterisieren.
Denn Schulbücher und schulische Bildungsmedien lassen sich insoweit als zentrale Instanzen eines Gedächtnisses der Gesellschaft begreifen, als sie durch diskursive und rekursive Prozeduren der selektiven Kanonisierung oder Auslassung von Wissen zur Herausbildung gesellschaftlicher Strukturen und Semantiken beitragen. Strukturen bestehen aus Erwartungen, die je gegenwärtig in der Kommunikation aktualisiert und dabei in der Zeitdimension mal mehr, mal weniger ausgehend von vergangenen Erfahrungen in die Zukunft projiziert werden. In der soziologischen Systemtheorie nach Luhmann wird, wie oben bereits ausgeführt, zwischen kognitiven und normativen Erwartungen unterschieden, während Semantiken als Erwartungen aufgefasst werden können, die nicht eindeutig als kognitiv oder normativ zugeordnet werden.64 Gesellschaftsstrukturen bilden dann generalisierte Erwartungen, die aus vielfachen Wiederholungen hervorgehen und dadurch sedimentiert bzw. institutionalisiert werden. Daraus resultiert unmittelbar die Frage, wie dies qua performativer Anrufung von Subjekten als sozialen Trägern von Handlungsfähigkeit und Gedächtnis sinnstiftend kommuniziert, generiert und letztlich gesellschaftlich institutionalisiert und tradiert wird. Im Rahmen der gesellschaftlichen Institution schulischer Bildung erlangen Schulbücher und schulische Bildungsmedien als serielle Formulare des gesellschaftlichen Gedächtnisses, also der rekursiven Kommunikation von Wissen, Kompetenzen, Normen und Werten sowie Selbst- und Fremdbeschreibungen und damit verbundenen Identifikationsangeboten, die zugleich jeweils inkludieren oder exkludieren, eine zentrale Bedeutung. Neben der Erwartung einer „didaktischen Reduktion“ sind sie durch die diskursive Verdichtung und serielle Kanonisierung oder beobachtete Auslassung von Wissen charakterisiert. Darüber hinaus reflektieren und manifestieren sie weitere Formulare gesellschaftlicher Erwartungen an Bildungsmedien wie die (fach-)didaktische Anwendungsorientierung, jeweils vorherrschende politische Rahmungen sowie massenmedial-technologische Innovationen und eine korrespondierende (massen-)mediale Aufmerksamkeitsökonomie.
Schulbücher und schulische Bildungsmedien versammeln in sich überaus unterschiedliche Wissensformen wie wissenschaftliches Wissen, fachspezifisches professionelles Wissen und Alltags- und Allgemeinwissen, die sich nicht nur auf überaus verschiedene Gegenstände beziehen, sondern darüber hinaus jeweils durch unterschiedliche Grade diskursiver Autorisierung und verschiedene gesellschaftliche Status charakterisiert sind. Die damit verbundene inhärente Kontingenz des Wissens manifestiert sich schließlich vor allem in der Zeitdimension, d. h. in der Wandelbarkeit, Veränderung und vor allem in der strukturellen Veraltung des in der schulischen Bildung, in Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien vermittelten Wissens, wie wiederum Luhmann pointiert formuliert hat. „Man lernt, um wieder verlernen zu müssen, wenn es auf Genauigkeit oder Aktualität ankommt, und behält im übrigen ‚Bildung‘ als Kondensat zurück.“65 Dies zeigt sich dann insbesondere in der jeweils spezifischen Aktualisierung und Adaption des Gelernten (und Verlernten) in den verschiedensten sozialen Situationen und gesellschaftlichen Kontexten. Hier tritt der Charakter von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien, die das entsprechende „Schulbuchwissen“ vermitteln, als institutionalisiertes Gedächtnis anhand des sozialen „Vergessens“ besonders deutlich zutage.
Fazit und Ausblick
Während bezogen auf die Bildungs- und Erziehungswissenschaften bereits vielfach diagnostiziert worden ist, dass Schulbücher und schulische Bildungsmedien dort einen immer noch weitgehend vernachlässigten Forschungsgegenstand bilden, gilt für die Sozial- und Gesellschaftstheorie, dass darin Schulbücher und schulische Bildungsmedien überhaupt noch nicht verortet, geschweige denn verankert worden sind.66 Der hier vorliegende Beitrag versteht sich daher als Versuch, dies zu ändern, indem er Schulbücher und schulische Bildungsmedien ausgehend von den sozialtheoretischen Grundbegriffen Wissen, Kommunikation und Gedächtnis im Rahmen einer soziologischen Gesellschaftstheorie vermessen hat, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die hier unternommene gesellschaftstheoretische Verankerung und Vermessung von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien erfolgte anhand der sozialtheoretischen Grundbegriffe Wissen, Kommunikation und Gedächtnis und der polykontexturalen Verfasstheit von Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien im Rahmen der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Allerdings spricht gegenwärtig – auch bezogen auf Schulbücher und schulische Bildungsmedien – vieles dafür, dass diese funktionale Differenzierung zunehmend überformt wird durch die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion. Dies manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass Erinnerungs- und Identitätspolitiken sowohl in der schulischen Bildung als auch in Schulbüchern und schulischen Bildungsmedien zu zentralen Gegenständen geworden sind, in denen nicht zuletzt auch gesellschaftliche (Neu-)Aushandlungen von Inklusion und Exklusion erfolgen. Darüber hinaus korrespondiert die Unterscheidung Inklusion/Exklusion in mehreren Hinsichten mit den grundlegenden Funktionen der Institution schulischer Bildung.
Denn die Institution schulischer Bildung verbindet schließlich drei gesellschaftlich grundlegende gesellschaftliche Funktionen miteinander, und zwar die Vermittlung staatlich sanktionierten und jeweils als gesellschaftlich relevant definierten Wissens, die selektive Verleihung und Legitimation stratifizierter Bildungsabschlüsse und Qualifikationen67 sowie zumeist als kulturell qualifizierte diskursive Integration durch die performative Anrufung von Subjekten. Mithin trägt die schulische Bildung damit insgesamt sowohl zur übergreifenden Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit als auch zur fortwährenden Organisation und Gestaltung gesellschaftlich differenzierter Chancen der Inklusion und Exklusion von Individuen und sozialen Gruppen bei. Damit geht inhärent die Distribution der unterschiedlichen Formen ökonomischen, kulturellen, sozialen und schließlich symbolischen Kapitals inklusive dessen Akkumulation qua Gedächtnis und ihrer jeweiligen Konvertierbarkeit einher, die wiederum die Logiken und Prozesse der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit allgemein als auch diejenigen des gesellschaftlichen Feldes der schulischen Bildung im Besonderen prägen.68 Diesen polyvalenten Funktionen und verschiedenen Aspekten vor allem schulischer Bildung sind auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedener Hinsicht jeweils Figurationen des Gedächtnisses in Form der Unterscheidung von Erinnern und Vergessen eingeschrieben und inhärent.
Ausgehend von der soziologischen Systemtheorie Luhmanns sowie von Bourdieus Theorie gesellschaftlicher Felder, die jeweils strukturell durch die Polarität zwischen ökonomisch dominanten Akteuren einerseits und kulturell dominanten Akteuren andererseits geprägt sind, die jeweils um die Definitionsmacht und Sinndeutung konkurrieren, lassen sich daran anschließend schulische Bildungsmedien in ihren vielfältigen Bezügen zu anderen gesellschaftlichen (Teil-)Systemen oder Feldern beschreiben. Außerdem lässt sich untersuchen, inwiefern sie im Rahmen der Institution schulischer Bildung nicht nur maßgeblich zur seriellen Transmission von als relevant definiertem gesellschaftlichen Wissen, sondern darüber hinaus zur gesellschaftlichen Aushandlung, Reproduktion und Repräsentation von Inklusion/Exklusion beitragen, wie nicht zuletzt auch in den diskursiven Figurationen der Erinnerungs- und Identitätspolitiken deutlich wird. In diesem Zusammenhang bietet sich ebenso die Untersuchung ihres Beitrags zur Reproduktion und Legitimation (oder potentiellen Delegitimation) gesellschaftlicher Machtverhältnisse und epistemischer Ordnungen sowie deren subjektivierende Aneignung ausgehend von der Anrufung von (zukünftigen) Subjekten im Namen der gesellschaftlichen Institution der Bildung an.
Notes
Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, u. a. 304; Marcus Otto, Der Wille zum Subjekt. Zur Genealogie politischer Inklusion in Frankreich (16.–20. Jahrhundert), Bielefeld: Transcript, 2014, 194f.
Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 299.
Vgl. Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, 53f.
Vgl. Rudolf Stichweh, Memorandum zu einem Institut für Evolutionswissenschaft, Bad Homburg: Programmbeirat der Werner Reimers Konferenzen, 1999, 8.
Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996.
Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, 1031f. u. Otto, Subjekt, 10.
Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 327–348; Otto, Subjekt, 195.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 111–117.
Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg: VSA, 1977, 142f.; Isolde Charim, Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Theorie der Hegemonie, Wien: Passagen, 2002.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 105f.
Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983.
Vgl. Bollenbeck, Bildung, 160–225.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 120–123.
Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, 97–121; Pierre Bourdieu, Homo academicus, Paris: Les Éditions de Minuit, 1984.
Vgl. u. a. Luhmann, Gesellschaft, 36f.
Vgl. Luhmann, Gesellschaft, 632; Otto, Subjekt, 340f.
Vgl. Wolfgang Jacobmeyer, „Das Schulgeschichtsbuch. Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation?“ in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 26 (1998), 26–35.
Vgl. Gerd Stein, Schulbuchwissen, Politik und Pädagogik. Untersuchungen zu einer praxisbezogenen und theoriegeleiteten Schulbuchforschung, Kastellaun: Henn, 197; Thomas Höhne, Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuchs, Frankfurt am Main: Johann Wolfgang Goethe-Universität, 2003.
Vgl. Stein, Schulbuchwissen.
Vgl. Höhne, Schulbuchwissen.
Vgl. Urs Stäheli, „Die Nachträglichkeit der Semantik. Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik,“ in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 4 (1998), 315–339; Marcus Otto, „Zur Aktualität historischen Sinns − Diskursgeschichte als Genealogie immanenter Ereignisse,“ in: Franz X. Eder (Hg.), Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden: Springer, 2006, 171–186.
Vgl. Stäheli, „Nachträglichkeit“ u. Rudolf Stichweh: „Semantik und Sozialstruktur. Zur Logik einer systemtheoretischen Unterscheidung,“ in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 2, 6 (2000), 237–251.
Vgl. Stichweh, „Sozialstruktur,“ 237, 248.
Vgl. Stäheli, „Nachträglichkeit.“
Vgl. Marcus Otto, „Zur Aktualität historischen Sinns,“ 171–186.
Vgl. Matthias Berek, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden: Harrassowitz, 2009, 70f.
Vgl. Peter M. Hejl, „Wie Gesellschaften Erfahrungen machen oder: Was Gesellschaftstheorie zum Verständnis des Gedächtnisproblems beitragen kann,“ in Schmidt, Siegfried J. (Hg.), Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991; Felicitas Macgilchrist und Marcus Otto, „Schulbücher für den Geschichtsunterricht,“ Version 1.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 18. Februar 2014, www.docupedia.de/zg/Schulbuecher, zuletzt geprüft am 20. November 2023.
Vgl. u. a. Bourdieu, Unterschiede, Bourdieu, Homo academicus u. Bourdieu, Sozialer Sinn, 97–121.
Vgl. Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart: Klett, 1971.
Vgl. Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991.
Vgl. Christoph Schäfer, Didaktik der Erinnerung. Bildung als kritische Vermittlung zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis, Münster: Waxmann, 2009, 180.
Vgl. Schäfer, Didaktik, 180.
Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 97–121.
Vgl. Bollenbeck, Bildung.
Vgl. Bollenbeck, Bildung.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 187.
Dies und die folgenden Überlegungen dieses Abschnitts habe ich teilweise bereits in einem früheren Beitrag ausgeführt, hier werden sie nun noch einmal rekapituliert und im Rahmen der vorliegenden Fragestellung präzisiert. Vgl. Marcus Otto, “The Challenge of Decolonization. School History Textbooks as Media and Objects of the Postcolonial Politics of Memory in France since the 1960s,” in: Eckhardt Fuchs und Marcus Otto (Hg.), Special Issue: Postcolonial Memory Politics in Educational Media, Journal of Educational Media, Memory, and Society 5, 1 (2013), 15–17.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 59.
Vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, 88f., 96–102.
Vgl. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996, 36–48, 61f.
Vgl. hierzu ausführlich auch André Kieserling, Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
Luhmann: Massenmedien, 9.
Vgl. Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, 27–31.
Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 60f. u. Luhmann, Gesellschaft, u. a. 90.
Vgl. Stichweh, Memorandum.
Vgl. Otto, Subjekt, S.192ff.
Vgl. Niklas Luhmann, Die Kontrolle von Intransparenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2018, 79.
Vgl. Esposito, Soziales Vergessen.
Vgl. Hejl, „Gesellschaftstheorie.“
Vgl. Jacobmeyer, Geschichtsschulbücher.
Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, 184.
Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, 27–31.
Vgl. Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, Stichweh, Memorandum u. Otto, Subjekt, 195f.
Vgl. Althusser, Ideologie u. Charim, Althusser-Effekt.
Vgl. Luhmann, Gesellschaft, 743–746.
Vgl. Luhmann, Gesellschaft, 632 u. Otto, Subjekt, 340f.
Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, 27–31.
Vgl. Bollenbeck, Bildung.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 93–96.
Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 97–121.
Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, 27–31.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 59, 62–74.
Vgl. Esposito, Soziales Vergessen, 34–39, 253–272.
Vgl. Stichweh, Sozialstruktur, 237, 248.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 134.
Vgl. zum Desiderat einer gesellschaftlichen Kontextualisierung von Schulbüchern aus der Perspektive einer geschichtsdidaktischen diskursanalytischen Schulbuchforschung auch Thomas Hellmuth, „Fröhlicher Eklektizismus. Diskursanalytische Schulbuchforschung als Beitrag zu einer Kritischen Geschichtsdidaktik,“ in: Judith Breitfuß, Thomas Hellmuth, Isabella Svacina-Schild (Hg.), Diskursanalytische Schulbuchforschung. Beiträge zu einer Kritischen Geschichtsdidaktik, Frankfurt am Main: Wochenschau, 2021, 16f.
Vgl. Luhmann, Erziehungssystem, 62–76; Bourdieu, Homo academicus.
Vgl. Bourdieu und Passeron: Illusion.